Wie Verhandlungsprofis Lügen entlarven

„Die Frage ist oft die Mutter der Lüge.”

Wilhelm Busch

Erst, als der Mensch in seiner Evolution das Lügen lernte, wuchs seine Großhirnrinde. Der Grundstein für das, was unser Denken heute ausmacht, wurde gelegt. Und heute? Heute regieren Lügen die Welt. Jeder von uns schwindelt täglich bis zu 200 Mal. Betrüger, die Schecks fälschen, an der Börse spekulieren oder sich Hochzeiten erschwindeln, indem sie sich für andere ausgeben, bauen sogar ihr ganzes Leben auf der Unwahrheit auf. Nicht immer ganz die Wahrheit zu erzählen, ist für die meisten von uns zwar nicht der Lebenshinhalt. Aber Lügen sind Teil des menschlichen Daseins und begegnen uns jeden Tag.

Wer lügt?

Lügen sind komplexe Prozesse, die eine gewisse Vernetzung der Gehirnzellen erfordern. Auch wenn wir Lügen oft benutzen, um Sachverhalte zu vereinfachen, ist diese Konstruktion der Lügen für unser Gehirn sehr aufwändig. Nur wer wirklich intelligent, geübt und konzentriert ist, lügt wirklich gut. So können Menschen mit Behinderung oder Kinder weniger gut lügen, als Erwachsene. Einigen Autisten beispielsweise ist es gar nicht oder nur schwer möglich, Lügen zu konstruieren und andere damit bewusst zu täuschen. Evolutionsforscher haben herausgefunden, dass unser Denkzentrum über die Entwicklung der Menschheit an Kapazität auch deswegen so stark zulegen musste, um Lügen zu verarbeiten. Wer immer die Wahrheit sagt, braucht einen großen Teil seiner Denkfähigkeit nicht.

Auch die meisten Tiere sind kaum in der Lage zu lügen. Einfache Täuschungen dienen hier dem Überleben der eigenen Sippe oder Gattung. Wenn Schwebfliegen sich einen schwarz-gelb-gestreiften Körper zulegen, um wie Bienen oder Wespen auszusehen, dann ist das eine vergleichsweise harmlose Lüge. Einige Vogelarten und Nagetiere stoßen beispielsweise schrille Warnpfiffe aus, auch wenn keine Gefahr besteht. Entweder, um das eigene Weibchen daran zu hindern, mit einem anderen Männchen anzubandeln, oder um die Gruppe zu verwirren, weil sie ihre Beute für sich alleine haben wollen. Die Männchen einer Affenart tun so, als seien sie nicht an Weibchen interessiert, um den Patriarchen zu täuschen. Passt dieser dann kurz nicht auf, suchen die jungen Männer durchaus Kontakt zu paarungsbereiten Weibchen.

Der Mensch dagegen fährt ganz andere Kaliber auf. Selbst Otto Normalbürger lügt täglich zwischen 1,8 und 200 Mal. Das hängt davon ab, ob man kleine Lügen mitzählt oder nicht. Und das, obwohl es in fast allen Religionen eine große Sünde bedeutet, nicht stets die Wahrheit zu sagen. Judentum, Christentum und der Islam verurteilen Lügen auf das Schärfste.

Wann lügen wir?

Ständige Versuche und Tests verraten unseren Soziologen und Wissenschaftlern mehr über das Thema Lügen. An der University of Massachusetts in den Vereinigten Staaten von Amerika wurde beispielsweise ein Versuch mit 121 Studenten durchgeführt. „Reden Sie einige Minuten mit einer bisher unbekannten Person. Machen Sie dabei einen sympathischen und kompetenten Eindruck” – so lautete die Aufgabe. Ausnahmslos machten die Probanden einen positiven Eindruck auf ihr Gegenüber. Das schafften sie, indem sie logen, dass sich die Balken bogen.

Denn in einer darauffolgenden Runde wurden die jungen Menschen mit ihren Aussagen konfrontiert und mussten angeben, an welcher Stelle sie übertrieben oder wichtige Fakten weggelassen hatten. Heraus kam, dass mehr als 60 Prozent der Teilnehmer den anderen angelogen hatten. Einige sogar mehrmals. Viele übertrieben, wenn es um ihre Leistungen oder Eigenschaften ging. Manche behaupteten, Menschen zu kennen, die sie gar nicht kannten. Einer behauptete gar, der Frontmann einer bekannten Rockband zu sein. Jeder versuchte – notfalls mit Lügen – sich in einem besonders guten Licht darzustellen. Während Männer bei dieser Studie eher übertrieben, wenn es darum ging, sich selbst gut darzustellen, machten Frauen eher falsche Komplimente oder versuchten, sich beim Gegenüber anzubiedern.

Versuchsleiter und Psychologe Robert Feldman von der Universität von Massachusetts in Amherst erläuterte, dass selbst die Studenten davon überrascht waren, wie oft sie die Unwahrheit sagten. Es scheint, als funktioniere das Flunkern schon mehr oder weniger automatisch und unbewusst. Lügen sind also weit verbreitet, ja geradezu an der Tagesordnung. Das gilt nicht nur für Studenten, auch Ärzte, Eltern oder Journalisten tun es.

Wissenschaftler vermuten, dass Lügen eine soziale Funktion haben. Denn bei einer Wiederholung des Versuchs in den USA logen sogar 78 Prozent der Probanden bei ihrem Kurzgespräch mit einem Fremden. Damit haben fast vier Fünftel der Teilnehmer gelogen. Und zwar vor allem diejenigen, denen man gesagt hatte, dass sie die unbekannte Person noch drei weitere Male treffen würden. Bei der Aussicht auf weitere Begegnungen logen vor allem die Frauen. Stärken Lügen also länger andauernde Beziehungen?

Und schon in frühen Jahren lernen wir, wie wir Schwindeleien für unseren Vorteil ausnutzen können. Psychologen sehen die Fähigkeit zum Lügen als einen Beleg für die Schulreife. Wer schummelt und flunkert, darf in die erste Klasse. Denn dann sind die Hirnstrukturen ausgeprägt genug, dass sie dem Unterricht folgen können. Natürlich „üben“ die Kleinen zunächst noch. Denn wenn der Dreijährige noch kauend neben der Keksdose sitzt, glaubt ihm keiner, dass nicht er es war, der nur noch die Krümel übrigließ. Je besser die Unwahrheit verpackt ist, desto weiter ist die Entwicklung des Gehirns vorangeschritten.
Einen Versuch mit Kindern zeigte der WDR in seiner Wissenssendung „Quarks“ im Jahr 2004. In einem Kinderkrankenhaus in Zürich wird den jungen Patienten eine Geschichte erzählt: „Max versteckt seine Süßigkeiten in einer Schachtel. Dann verlässt er das Zimmer. Seine Schwester Clara kommt ins Zimmer, findet die Süßigkeiten und steckt sie in ihren Korb. Nun kommt Max zurück und möchte von seinen Süßigkeiten naschen.“ An dieser Stelle wird gefragt, wo Max denn nach seinen Naschereien suchen würde. Kleinkinder denken, dass Max im Korb seiner Schwester suchen wird. Denn sie haben ja selbst gesehen, dass die Bonbons von der Schachtel dorthin gewandert sind. Kinder über vier Jahre wissen aber, dass Max nicht wissen kann, wo seine Süßigkeiten jetzt sind. Er wird sie dort suchen, wo er sie zurückgelassen hat, nämlich in seiner Schachtel. Um so weit abstrahieren zu können, brauchen Kinder die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen. Denn erst wenn Kinder begriffen haben, dass sie selbst mehr wissen können, als ein anderer, können sie andere bewusst täuschen.

Sobald Kinder diesen Abstraktionsgrad erreicht haben, ist es nur noch ein kleiner Schritt dazu, selbst aktiv zu lügen. Dann können sie ihren Wissensvorsprung nutzen, um dem Anderen geschickt eine wohlweißlich falsche Information unterzuschieben.

Aber sind Lügen immer schlecht? Sind sie nur falsch und betrügerisch, wie es uns die Moralisten und die Religion weismachen wollen? Wenn durch die Wahrheit größerer Schaden angerichtet werden würde, als mit einer Lüge – kann dann die Unwahrheit so schlecht sein? Ist die Diagnose einer tödlichen Krankheit verletzender als eine gnädige Lüge? Es wäre gewiss eine so genannte „weiße Lüge“, wenn man den Nazis nicht verrät, wo die jüdischen Flüchtlinge versteckt sind.

Auch die zeitgenössischen Philosophen beschäftigen sich damit, Lügen zu bewerten. Man müsse abwägen, zwischen dem Gebot der Wahrheit und einer Not- oder Höflichkeitslüge. Etwa um Leben zu retten, glauben viele Denker, müsse es erlaubt sein, zu lügen. Oder wenn es um private Informationen geht, die nicht an die Öffentlichkeit gelangen sollen. Manche Philosophen glauben auch, dass es gar kein Anrecht auf die Wahrheit gibt. Denn die eine Wahrheit gebe es oft nicht. Sie sei vielmehr eine Zusammensetzung verschiedener Sichten der Realität. Wo die Philosophie Lügen ethisch bewertet, geht es den Psychologen eher um den Mechanismus Lüge. Kulturkritiker sprechen bereits von einem „post-wahrhaftigen Zeitalter“, in dem wir zur Zeit leben. Weit bekannt ist beispielsweise, dass ein großer Teil der Lebensläufe von Bewerbern stark geschönt ist und dass es die Lügenwahrscheinlichkeit damit zusammenhängt, mit wem wir sprechen. Am häufigsten lügen junge Menschen und zwar gegenüber ihrer Mutter. So gut wie nie belogen werden allerdings beste Freunde.

Obwohl wir alle ständig bewusst oder unbewusst lügen, erkennen es viele nicht, wenn ihr Gegenüber die Unwahrheit sagt.

Aber warum lügen wir?

Gründe für das Lügen gibt es viele. Die Menschen wollen Unangenehmem aus dem Weg gehen, Ärger vermeiden, sich selbst gut darstellen oder die Schuld auf andere schieben, diese Gründe geben Lügner bei einer Umfrage zu 41 Prozent an. Beziehungen retten oder das Zusammenleben erleichtern 14 Prozent mit der Unwahrheit. Wer geliebt werden will, bedient sich zu acht Prozent einer Täuschung und sechs Prozent sind zu faul, die Wahrheit zu sagen. Eine strenge Lügen-Definition bezeichnet die Lüge als eine Absicht, die Wirklichkeit falsch darzustellen. Entweder um den anderen zu schaden, oder um sich selbst einen Vorteil zu verschaffen. Das gilt beispielsweise auch, wenn man seine Mitmenschen in einer falschen Annahme belässt oder Missverständnisse nicht aufklärt. Oder, wenn man wichtige Fakten auslässt. Legen wir diese Definition an, lügen wir alle nach einer Untersuchung des Instituts für Experimentelle Psychologie an der Universität Regensburg – jeden Tag. Obwohl Lägen in unserer Gesellschaft nicht akzeptiert sind. Zu den beliebtesten Eigenschaften unserer Mitmenschen gehören nämlich aufrichtig, redlich, verständnisvoll, loyal und wahrheitsliebend.

Wie erkennen wir Lügen?

Obwohl wir alle ständig bewusst oder unbewusst lügen, erkennen es viele nicht, wenn ihr Gegenüber die Unwahrheit sagt. Wir lassen uns also täuschen. Dabei ist es gar nicht so schwer, Anzeichen einer Lüge zu erkennen. Wie in anderen Stresssituationen zeigen sich beim Lügner klassische Symptome wie:

  • Hoher Blutdruck und Puls
  • Blasses Gesicht
  • Leichtes Schwitzen
  • Feuchte Hände
  • Trockener Mund
  • Schnelle Atmung
  • Erweiterte Pupillen
  • Anspannung, Nervosität
  • Höhere Stimme
  • Falsches Lächeln
  • Nervöse Handlungen wie Zupfen oder
  • Zappeln oder Kratzen
  • Weniger Gesten, die das Gesagte unterstreichen
  • Diskrepanzen zwischen der Körpersprache und der Aussage

Dass die Menschen blind sind für diese Anzeichen hat evolutionäre Gründe. Den anderen auf eine Lüge hinzuweisen, hat Konfliktpotenzial. Außerdem scheinen Lügen Beziehungen eher aufrecht zu erhalten. Deshalb scheinen wir uns regelrecht zu weigern, Lügensignale zu erkennen. Lügen halten unsere Gesellschaft zusammen. Komplexe Beziehungen wären nicht möglich, das Zusammenleben und -arbeiten mit anderen wäre zum Scheitern verurteilt. Immer die reine Wahrheit sagen zu müssen, erscheint schwierig, stressig, viel zu kompliziert. Gerade Tatsachen, die emotional behaftet sind wie Fakten zum Sexualleben oder Kindererziehung haben Konfliktpotenzial. Auch klassische Streitthemen wie Religion, Familie, Politik sollten nicht immer in allen Details auf den Tisch kommen. Wir würden aus dem Streiten, Diskutieren und Überzeugen nicht mehr herauskommen und unsere Energie nur noch in Konflikten austragen. Deshalb ist es oftmals besser, eine Lüge nicht zu erkennen, sodass der Friede gewahrt und die Oberfläche nicht aufgewühlt wird.

Auch Richter, Psychiater und Geheimagenten erkennen Lügen statistisch kaum häufiger als Amateure. Obwohl es zu ihrer Ausbildung und zu ihrer Arbeit gehört, Falschaussagen zu erkennen. Rund 64 Prozent der Schwindeleien wurden von ihnen entdeckt. Auch Lügendetektoren kann man austricksen und liegen oft daneben. Interessanterweise können, laut Statistik, Gefängnisinsassen Lügen am besten erkennen.

Wann dürfen wir lügen?

Wer gut lügt, gilt als sozial intelligent. Damit eine Lüge auch unentdeckt bleibt, hat unser Großhirn Strategien entwickelt, geschickt vorzugehen. So können wir, wenn wir nicht direkt darauf gestoßen werden, Lügen ignorieren und großzügig darüber hinweggehen. Denn theoretisch kennen wir die Anzeichen einer Lüge und können sie ohne Weiteres aufdecken. Aber unterbewusst wollen wir die Lüge nicht erkennen, weil es einfacher ist, sie stehen zu lassen. Ein gelogenes Kompliment ist uns eben lieber als die unverschämte Wahrheit.

Der Soziologe und Lügenforscher Peter Stiegnitz bestätigt, dass lügen erlaubt und nützlich ist. Soweit keinem anderen dadurch bewusst geschadet wird. Höflichkeitslügen wie „Mir geht es heute gut“ oder „Nein, Schatz, du bist nicht zu dick“, „Nichts ist los“, „Das Essen schmeckt ausgezeichnet“ oder „Du warst mal wieder richtig gut im Bett“ fördern eine Beziehung eher, als dass sie ihr schaden. Schließlich belügen wir uns auch selber jeden Tag. Beschönigende Blicke in den Spiegel, Eigenlob für eine besondere Leistung oder die rosarote Brille wenn es um Liebe, Partner oder Beziehung geht, sind Teil unserer Psychohygiene. Wer sich nicht ab und an selbst belügt, wird depressiv.

Auch in Verhandlungen ist Lügen oft an der Tagesordnung. Denken Sie nur an die vielen Preisverhandlungen, bei denen der Einkäufer mit einem angeblich günstigerem Angebot des Wettbewerbers den Preis nach unten drücken kann. Mein Leitspruch daher: Trauen Sie keinem Angebotsvergleich, den Sie nicht selbst gefälscht haben!
Wichtig ist aber, das Gegenüber nicht zum Lügen zu provozieren: Wenn ich beispielsweise meine Tochter abends frage, ob sie die Zähne schon geputzt hat, obwohl ich gerade die trockene Zahnbürste in der Hand halte, dann verführe ich sie ganz eindeutig zum Lügen. Was soll sie denn bei dieser Vorlage schon antworten? Viel besser wäre es daher, sie zu fragen, wann sie denn die Zähne putzen wird.

Mein Fazit zum Thema Lügen: Lügen gehören zu Verhandlungen wie das Foul zum Fußballspiel. Es gibt bestimmte Regeln, die manchmal nicht beachtet werden und es gibt Regeln, wie mit solchen Verstößen umgegangen wird. Ganz ohne Fouls können wir uns aber kaum ein Fußballspiel vorstellen.